"Man sollte möglichst früh ein Spitallabor kontaktieren."

Wie gelangen neue Diagnostiktechnologien von der Wissenschaft in die Praxis? Gespräch mit Markus Seeger, der einen NFP 72-Workshop zum Thema leitete.

Viele wertvolle Einsichten – und einiges an "Salt and Pepper", wie es ein Referent ausdrückte – lieferte der Workshop "Diagnostics in Antimicrobial Resistance: Pathways from Basic Science to Diagnostic Laboratories". Er fand am 28. März als Teil der NFP 72 Programmtagung statt (Programm und Referenten Workshop siehe Kasten unten).

Ziel war es, unter Einbezug verschiedener Gesichtspunkte aufzuzeigen, wie in der Forschung entwickelte neue Testverfahren erfolgreich in die Routinediagnostik gebracht werden können. Im Interview reflektiert Markus Seeger, Leiter des Workshops und NFP 72-Forschender, die zentralen Diskussionspunkte.

Interview

Alle sind sich einig: Die Medizin benötigt neue Tests, welche antibiotikaresistente Erreger schneller als bis anhin erkennen. Wir haben im Workshop aber einige Beispiele gehört, in denen sich genau solche Tests in der Praxis nicht etablieren konnten, obwohl sie zuverlässig funktionierten. Was kann da schiefgehen, Herr Seeger?

Einfach gesagt: In der Praxis gibt es noch andere Prioritäten und viele Sachzwänge. So spielt der Preis neuer Tests sicher eine grosse Rolle. Und nur, was sich nahtlos in die komplexe Arbeitsroutine im Spitallabor sowie zwischen diesem und den behandelnden Ärztinnen und Ärzten einfügen lässt, hat eine Chance, sich am Markt durchzusetzen. Wie Patrice Nordmann am Workshop erklärt hat, müssen neue Tests also einerseits für Ärzteschaft und Labors einen deutlichen Mehrwert gegenüber herkömmlichen generieren, zugleich sollte sich aber der zusätzliche Aufwand für das Personal in engen Grenzen halten.

Je günstiger und je einfacher anzuwenden, desto besser?

Beides ist sicher förderlich. Auf der anderen Seite gibt es immer wieder Technologien, mit denen man in der medizinischen Praxis noch überhaupt nicht vertraut ist, die aber so klare Vorteile versprechen, dass sich der anfänglich hohe Zusatzaufwand für deren Implementierung lohnt. So hat sich in den meisten Diagnostiklabors der Schweiz in den letzten zehn Jahren etwa die MALDI-TOF-Methode durchgesetzt, die Erreger mittels Massenspektrometrie nachweist. Im NFP 72 gibt es beides: Projekte, die bestens etablierte Methoden ausbauen und zum Beispiel auf weitere Erreger ausrichten, vor allem aber auch viele neuartige Ansätze, in denen teilweise völlig neuartige Technologien erstmals für medizinischen Zwecke eingesetzt werden.

Im Workshop wurde eines dieser Beispiele genauer präsentiert, nämlich die Anwendung nanomechanischer Sensoren, um von den Bewegungsmustern einzelner Bakterien ihre Reaktion auf Antibiotika abzulesen.

Dies ist tatsächlich ein sehr ermutigendes und interessantes Beispiel. Aus einem akademischen Projekt ist ein Start-up-Unternehmen hervorgegangen, das die wissenschaftlichen Grundlagen in ein Produkt übersetzt hat und bereits sehr weit gekommen ist. Viele der Ausführungen von Danuta Cichoka, die als CEO die Markteinführung ansteuert, dürften hinsichtlich der Implementation neuer Technologien verallgemeinerbar sein.

Sie entwickeln selber ebenfalls neuartige Testmethoden. Welche zentralen Botschaften haben Sie mitgenommen?

Dass wir unterschiedlichen Praxispartnern sehr genau erklären müssen, welche konkreten Vorteile unser Test haben wird. Und das setzt einen klaren Fokus auf eine eng definierte medizinische Fragestellung voraus. In der Klinik sind schnelle diagnostische Tests vor allem dann nötig, wenn es sich um eine lebensbedrohliche Infektion handelt, wie zum Beispiel bei Sepsispatienten. Die wichtigste Frage, die ein Test dabei beantworten muss, lautet nicht: ‘Welcher Erreger ist es?’, sondern: ‘Welches Antibiotikum tötet ihn ab?’

Welche anderen Praxispartner sind nebst den Klinikerinnen und Klinikern wichtig?

Ab einem gewissen Punkt potentielle Investoren, welche die Entwicklung von der Idee zum ausgereiften Test finanzieren. Diese wiederum basieren ihre Entscheidungen in der Regel auf Marktanalysen und Businessplänen. Ihnen muss man genau erklären können, wie – und wann – ein neuer Test für den Produzenten Gewinne generiert. Doch vielleicht am Wichtigsten ist der Einbezug eines gut vernetzten, universitären Diagnostiklabors.

Weshalb?

Die Labors arbeiten letztlich mit den Tests. Sie verfügen über technische Expertise und kennen gleichzeitig ganz genau die Arbeitsabläufe in der Praxis. Alle Teilnehmenden des Workshops waren sich einig, dass man möglichst früh mit einem Spitallabor in Kontakt treten sollte, denn gewisse frühe Entscheidungen können hinsichtlich der klinischen Praxis und des Marktes bereits entscheidend sein. Und wie Adrian Egli, der selber ein Labor leitet und auch Tests entwickelt, schön darlegte, muss eine Technologie dazu noch nicht ausgereift sein. Im Gegenteil: Wer die Weitsicht hat, schon früh mit solchen Praxispartnern zusammenzusitzen, hat auch die Chance, ihre Bedürfnisse und ihre Expertise in die Entwicklung einfliessen zu lassen.

Auch später bleiben sie wichtig. Denn ein einmal ausgereiftes Diagnostikinstrument muss man wiederum mit echten klinischen Proben testen und seine Zuverlässigkeit prüfen.

Für die Marktzulassung eines Tests muss man diese Validierung nachweisen, und die Anforderungen etwa für die europäische CE-Zertifizierung werden in den kommenden Jahren strenger. Deshalb sind klinische Labors auch hierfür unerlässliche Partner. Und wer bereits eine gute Zusammenarbeit etabliert hat, ist sicherlich im Vorteil, denn um einen neuen Test zu validieren, muss ihn ein Labor über länger Zeit parallel zur aktuellen Standardmethode durchführen und die Resultate vergleichen. Das ist sehr aufwändig.

Doch selbst wenn eine neue Testmethode die Zertifizierung hat, heisst das nicht, dass Spitäler ihre Verwendung bei den Krankenkassen verrechnen können.

Das ist ein wichtiger Punkt, der im Workshop vor allem an die Vertreterin des Bundesamtes für Gesundheit BAG herangetragen wurde: Es dauert oft mehrere Jahre, bis das BAG ein neues Diagnostikinstrument auf die Liste der kassenpflichtigen Leistungen setzt. Das ist zu lang, und es schmälert die Attraktivität für Investoren, sich an der Entwicklung zu beteiligen. Auf der anderen Seite ist es grundsätzlich natürlich gut, dass die Behörden zuerst genau wissen wollen, ob ein neuer Test wirklich einen medizinischen Nutzen bringt und kosteneffizient ist.

Dafür braucht es wieder Studien?

Ja. Doch wie Stephan Harbarth am Workshop herausgestrichen hat, ist das regulatorische Umfeld kaum auf diese Art Studien ausgerichtet, was den bürokratischen Aufwand dafür stark erhöht. In diesem Zusammenhang besteht ebenfalls Handlungsbedarf.

Dass neue Tests schnellere Resultate liefern, führt also nicht per se zu einer Verbesserung der Therapie?

Auch das wurde am Workshop deutlich. Wenn Kliniker zwar dank eines schnellen Tests früher als heute die richtigen Antibiotika verschreiben, es aber aufgrund ihrer Arbeitsabläufe und Prioritäten verpassen, die initiale Therapie dann herunterzufahren, ist in Bezug auf die Entwicklung von Resistenzen wenig gewonnen. Und letztlich spielen wiederum die Arbeitsabläufe eine zentrale Rolle. Adrian Egli hat etwa den Begriff der "brain-to-brain time" eingebracht, also die Zeit, die zwischen dem Erhalt eines Resultats im Labor bis zur Therapieentscheidung der Klinikerin oder des Klinikers vergeht. Und Peter Keller, der ebenfalls ein klinisches Labor leitet, erläuterte anschaulich, wie der Zeitgewinn neuer Tests teilweise durch suboptimale Kommunikationswege zunichte gemacht wird.

Der Nutzen schnellerer Diagnostik hängt also auch wesentlich von den Rahmenbedingungen ab, in denen sie angewendet wird?

Schnellere Diagnostik ist nur ein Baustein, wenn auch ein wichtiger, der im Zusammenspiel mit anderen Massnahmen, vor allem mit Antibiotika-Stewardship-Programmen steht. Wenn beide Elemente gut zusammenspielen, sind grosse Fortschritte möglich.

NFP 72-Workshop

Diagnostics in Antimicrobial Resistance: Pathways from Basic Science to Diagnostic Laboratories

28. März 2019, Musée Olympique, Lausanne
Leitung: Markus Seeger

Inputreferate:

Diagnostic tool development: Patrice Nordmann, Universität Fribourg

Start-up: Danuta Cichoka, Resistell AG

Clinics: Stephan Harbarth, Universitätsspital Genf

Clinical Microbiology: Adrian Egli, Universitätsspital Basel

Anschliessend Diskussion im erweiterten Panel (Mit Peter Keller, Institut für Infektionskrankheiten, Universität Bern) und im Plenum.